Der Gleichheitssatz – Von gleichen Rechten und ungleichen Behandlungen

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Das Grundgesetz enthält direkt am Anfang sehr bedeutsame Vorschriften. Man kann sagen, dass die wichtigsten, grundlegenden Fragen gleich zu Beginn in den ersten Artikeln (so werden die einzelnen Vorschriften des Grundgesetzes genannt) angesprochen werden. Der erste Artikel garantiert jedem Menschen seine Würde als Individuum und stellt klar, dass der Staat für die Menschen und nicht umgekehrt die Menschen für den Staat da sind. Der zweite Artikel beschäftigt sich mit der Freiheit der:des Einzelnen und verbietet es dem Staat, diese Freiheit grundlos einzuschränken.

Der dritte Artikel – um den es hier gehen soll – widmet sich einer weiteren, sehr grundsätzlichen Frage: der Gleichheit. Die Verfassung ist von dem Gedanken durchzogen, dass alle Menschen gleich wertvoll sind, niemand also z. B. „besser“, „wertvoller“ oder „höherrangig“ ist. Konsequenterweise müssen alle Menschen daher auch die gleichen Rechte haben. Gleichzeitig wussten die Mütter und Väter des Grundgesetzes natürlich, dass es zahlreiche Unterschiede zwischen den Menschen gibt. Wir haben z. B. verschiedene Interessen, kommen aus unterschiedlichen Staaten, sind verschieden groß oder alt. All diese Unterschiedlichkeiten machen uns zu Individuen, und diese Individualität ist durch die Artikel 1 und 2 des Grundgesetzes besonders geschützt.

Gleichheit und Unterschiedlichkeit

Wie kann die Verfassung nun sagen, dass alle Menschen gleich sind, wenn sie doch offensichtlich so viele Unterschiede aufweisen und ihre Unterschiedlichkeit, also ihre Individualität, sogar besonders geschützt ist? Verwickelt sich das Grundgesetz da in einen Widerspruch? Ist das mit der Gleichheit in Art. 3 GG nur eine leere Phrase?

Nein, es ist im Gegenteil sogar so, dass sich die Ideen von Freiheit und Gleichheit in der Verfassung gegenseitig ergänzen. Jedem Menschen soll nämlich das gleiche Maß an Freiheit zukommen, sodass die:der Einzelne sich ebenso wie alle anderen frei entfalten und auf seine:ihre Art unterschiedlich sein kann. Das Grundgesetz meint also eine spezielle Art von Gleichheit, bei der die Verschiedenheit der Menschen respektiert wird, solange allen die gleichen Möglichkeiten (also Freiheiten) offenstehen. Ok, das klingt vielleicht immer noch etwas verwirrend. Schauen wir uns einfach einmal an, was im ersten Absatz des Art. 3 GG genau steht:

„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“

Besonders wichtig ist der Teil „vor dem Gesetz“. Das bedeutet, dass die Unterschiede zwischen den einzelnen Menschen aus der Sicht des Rechts ohne Bedeutung sind, dass es also für die rechtliche Bewertung nicht auf individuelle, zwischen den Personen bestehende Unterschiede ankommen darf. Das heißt aber nicht, dass das Grundgesetz diese Unterschiede nicht anerkennen oder respektieren würde. Die Verfassung sagt nur: Obwohl alle Menschen unterschiedlich sind, bewerte ich diese Unterschiede nicht, sondern für mich sind alle Menschen gleichwertig.

In der Rechtswissenschaft wird diese Idee „elementare Rechtsgleichheit“ genannt und sogar als ein Teil der Menschenwürde verstanden. Alle staatlichen Stellen, von der Schule und Polizei über die Gerichte bis hin zu der Regierung, sind daran gebunden.

Gleichheit und Gleichbehandlung

Aber heißt das nun, dass der Staat alle Menschen auch gleich behandeln muss? Offensichtlich ist das nicht der Fall, denn der Staat muss mit seinen Bürger:innen ganz unterschiedlich umgehen, um überhaupt funktionieren zu können. Eine Lehrerin kann nicht der ganzen Klasse die gleiche Note geben, die Polizei kann nicht jeden Menschen in Deutschland festnehmen, und vor Gericht können nicht beide Parteien gewinnen. Sobald der Staat handelt, behandelt er Menschen zwangsläufig ungleich.

Art. 3 Abs. 1 GG schreibt dem Staat also nicht vor, alle gleich zu behandeln, sondern vielmehr gleichartige Fälle gleich zu behandeln. Der Staat darf nicht anhand der Menschen unterscheiden, er soll (und muss) aber auf verschiedene Weise handeln, je nachdem, was die Menschen tun oder getan haben. Z. B. braucht jemand, der mit einem Auto auf der Straße fahren will, einen besonderen Führerschein. Mit dem Fahrrad darf dagegen jede:r ohne Prüfung fahren. Diese Ungleichbehandlung ist aber gerechtfertigt, weil Auto und Fahrrad so unterschiedlich gefährliche Fahrzeuge sind. Die beiden Fälle sind nicht gleichartig.

Stellen wir uns jetzt vor, zwei Menschen würden jeweils mit einem Auto fahren, ohne die notwendige Fahrerlaubnis zu besitzen. Dann haben wir zwei gleichartige Fälle, auf welche der Staat auch in gleicher Weise reagieren muss. Bei der Bestrafung der beiden Personen darf – wie wir schon wissen – nicht etwa danach unterschieden werden, ob diese reich oder arm, groß oder klein, berühmt oder unbekannt sind. Dies wären für eine ungleiche Bestrafung ungeeignete Gründe, denn das Gesetz muss ohne Ansehen der Person angewendet werden. Die Strafe muss aber von der individuellen Schuld abhängen, und die kann in den beiden Fällen durchaus sehr verschieden sein. Somit kann es gute Gründe für eine unterschiedlich hohe Bestrafung geben, etwa wenn eine der beiden Personen schon sehr häufig ohne Fahrerlaubnis gefahren ist.

Gründe für eine Ungleichbehandlung

Es geht also letztlich bei der Gleichheit in Art. 3 Abs. 1 GG um die Gründe, aus denen jemand anders behandelt werden darf. Die Grundidee der Verfassung ist, dass Ungleichbehandlungen immer aus sachlichen, vernünftigen Gründen heraus geschehen müssen und nicht aus Gründen, die mit der Person selbst zu tun haben. Wenn beispielsweise eine Schülerin eine bessere Note erhält als der Rest der Klasse, so darf das nur aufgrund ihrer besseren Leistung geschehen und nicht, weil sie z. B. aus einem besonders wohlhabenden Elternhaus kommt. Eine bessere Leistung ist dann ein sachlicher Grund, der eine ungleiche Behandlung rechtfertigt. Demgegenüber kann ein sachfremder Grund, z. B. die Herkunft der Schülerin, eine bessere Benotung nicht rechtfertigen.

Im Kern verlangt Art. 3 Abs. 1 GG, der auch der allgemeine Gleichheitssatz genannt wird, dass der Staat sich für Ungleichbehandlungen stets rechtfertigen und tragfähige, vernünftige und vor allem vorurteilsfreie Gründe vorweisen können muss. Gegen die Verfassung verstößt eine Ungleichbehandlung nur, wenn sie aus den falschen Motiven erfolgt.

Ungleichbehandlung und Diskriminierung

Die Verfassung belässt es aber nicht bei dieser allgemeinen Vorschrift, sondern verbietet bestimmte Gründe für eine schlechtere Behandlung ausdrücklich. Damit stellt das Grundgesetz klar, an welche persönlichen Merkmale der Staat in keinem Fall anknüpfen darf. Dies geschieht in den sogenannten speziellen Gleichheitssätzen, insbesondere dem Absatz 3 des Art. 3 GG:

„Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“

Ungleichbehandlungen wegen dieser besonders verwerflichen Gründe nennt man Diskriminierungen. Auch hier geht es wie bei dem allgemeinen Gleichheitssatz wieder um die Gründe, die hinter einer Ungleichbehandlung stehen. Das Grundgesetz betont sozusagen in den speziellen Gleichheitssätzen ausdrücklich, welche Gründe eine ungleiche Behandlung nie rechtfertigen können. Ein klarer Fall von Diskriminierung wäre es z. B., wenn Schülerinnen im Sportunterricht grundsätzlich schlechtere Noten als Schüler erhalten oder Menschen mit einer bestimmten Staatsangehörigkeit grundsätzlich härter bestraft würden. Im Einzelfall können sachliche Gründe aber auch die Ungleichbehandlung einer Person rechtfertigen, welche eines der in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Merkmale aufweist – das Merkmal darf aber nicht selbst der Grund sein.

Die Gründe, warum jemand schlechter behandelt wird als andere, müssen nicht real gegeben sein. Insofern ist die Formulierung in Art. 3 Abs. 3 GG etwas missverständlich, wenn es dort heißt, dass niemand „wegen seiner Rasse“ diskriminiert werden darf. Menschenrassen gibt es in Wirklichkeit nicht, sodass auch niemand eine Rasse „haben“ kann. Allerdings hängen einige Menschen trotzdem rassistischen Vorstellungen an, und das Grundgesetz will diese Diskriminierungen nicht ausblenden.

Offene Fragen

Die Diskussion darüber, was genau eine Diskriminierung ausmacht und welche Gründe eine ungleiche Behandlung rechtfertigen können, ist noch lange nicht beendet. Aktuell wird z. B. teils erbittert darum gestritten, inwieweit Männer und Frauen durch „Quotenregelungen“ unterschiedlich behandelt werden dürfen, um tatsächlich bestehenden Unterschieden in der Gesellschaft entgegenzuwirken. Ein anderer Streitpunkt ist beispielsweise, unter welchen Umständen der Staat Menschen das Tragen von religiösen Kopfbedeckungen verbieten kann. Diese Beispiele zeigen, dass das Verfassungsrecht und speziell auch das Recht der Gleichheitssätze eng mit politischen Fragen verbunden ist.

Auch wenn nicht alle Einzelheiten klar sind, kann man doch zumindest mit zwei Missverständnissen aufräumen: Zum einen schreibt Art. 3 GG nicht vor, jeden Menschen gleich zu behandeln. Es geht vielmehr darum, dass ungleiche Behandlungen immer durch sachliche Gründe gerechtfertigt sein müssen. Zum anderen ist nicht jede ungleiche Behandlung auch eine Diskriminierung. Dafür muss sich die Ungleichbehandlung auf besondere, im Grundgesetz genannte Merkmale beziehen.