Finanzminister entlassen, Rücktritt von Minister:innen, Vertrauensfrage angekündigt – was bedeutet das?

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Am 06. November 2024, einen Tag nach der US-Präsidentschaftswahl, kam es in der deutschen Politik zu etwas Ungewöhnlichem. Bundeskanzler Olaf Scholz trat vor die Presse und verkündete, er habe den Bundespräsidenten um die Entlassung von Finanzminister Christian Lindner gebeten. Kurze Zeit darauf traten die übrigen FDP-Minister:innen (bis auf Volker Wissing) von ihren Ämtern zurück.  Scholz erklärte weiter, er wolle im Januar die „Vertrauensfrage“ im Bundestag stellen und es solle Neuwahlen im März geben.

Die rechtlichen Grundlagen für dieses politische Geschehen finden sich in den Regelungen des Grundgesetzes wieder, daher soll hier eine Aufarbeitung der Geschehnisse aus rechtlicher Sicht erfolgen. Nach einem solchen Umbruch stellen sich mehrere Fragen: Hat Deutschland noch eine Regierung? Warum darf der:die Bundeskanzler:in überhaupt um die Entlassung eines:r Ministers:in bitten? Was ist die Vertrauensfrage? Warum wird nicht sofort neu gewählt? Folgend wird ein wenig Licht ins Dunkel gebracht:

Hat Deutschland noch eine Regierung?

Ja! Deutschland hat weiterhin eine Regierung. Was die Bundesregierung ist, wird im Grundgesetz in den Art. 62 – 69 Grundgesetz (GG) näher geregelt. Sie besteht aus dem:der Bundeskanzler:in und Minister:innen (Art. 62 GG). Der:die Bundeskanzler:in wird wiederum vom Bundestag, also dem Parlament, gewählt (Art. 63 GG). Zuletzt wurde Olaf Scholz am 08. Dezember 2022 vom Bundestag zum Bundeskanzler gewählt. Die Stimmen erhielt er damals von den Abgeordneten der Parteien SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, welche sich zuvor in einem Koalitionsvertrag auf eine gemeinsame Politik geeinigt hatten. Daraufhin schlug er, so wie es Art. 64 Abs. 1 GG vorsieht, verschiedene Personen von der Partei SPD, der Partei Bündnis 90/Die Grünen und der Partei FDP dem Bundespräsidenten (damals wie heute Frank-Walter Steinmeier) als Minister:innen vor, die sodann auch vom Bundespräsidenten ernannt wurden. Somit waren die Anforderungen an eine Bundesregierung erfüllt – es gab einen Bundeskanzler und verschiedene Minister:innen.

Und nun? Nun könnte man einwenden, nach Entlassung der FDP-Minister:innen wären nicht mehr alle ursprünglichen Minister:innen da und entsprechend keine Regierung mehr vorhanden. Insbesondere, weil auch die ursprüngliche Einigung über einen Koalitionsvertrag nun bedeutungslos ist, sodass eine Mehrheit im Bundestag für Olaf Scholz nur schwer erreichbar erscheint. Richtig ist: Eine Mehrheit im Bundestag haben die Parteien SPD und Bündnis 90/Die Grünen (plus Volker Wissing) nicht. Das schließt aber das Bestehen einer Regierung nicht aus. Das Grundgesetz verlangt an keiner Stelle, dass eine aktuelle Regierung auch die Mehrheit der Abgeordneten im Bundestag hinter sich hat. Eine solche Mehrheit ist praktisch, weil z.B. das Erlassen von Gesetzen eine Mehrheit im Bundestag erfordert, notwendig ist sie aber nicht. Wird ohne entsprechende Mehrheit regiert, spricht man von einer Minderheitsregierung.

Die Bundesregierung verliert insbesondere in vier Fällen ihre Position: 1. nach einer Neuwahl (Art. 69 Abs. 2 Alt. 1 GG), 2. nach einem Rücktritt des Bundeskanzlers (Art. 69 Abs. 2 Alt. 2 GG), 3. nach einem so genannten konstruktiven Misstrauensvotum (Art. 67 GG)[1], oder 4. nach der so genannten Vertrauensfrage (dazu sogleich). Der Grund dafür, dass eine Bundesregierung nur in so wenigen Fällen endet, ist einfach: Es soll verhindert werden, dass Deutschland nicht mehr regiert wird, weil der Bundestag es nicht schafft ein:e neue:n Bundeskanzler:in zu wählen. Deswegen sieht das Grundgesetz vor, dass ein:e Bundeskanzler:in und die Minister:innen so lange im Amt bleiben bis eine neue Regierung gebildet ist. Das ergibt auch Sinn. Zwar hat die Regierung aus eigener Kraft nicht mehr die Mehrheit im Bundestag, doch hat sie weiterhin viele Möglichkeiten zu regieren. Sie kann Verordnungen erlassen – also eine Art von Gesetz (vgl. Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG), das aber in der Regel nicht der Zustimmung des Bundestages bedarf. Die Regierung kann auch probieren, mit Stimmen anderer Parteien eine Mehrheit für den Erlass neuer Gesetze zu erringen.

Warum darf der Bundeskanzler überhaupt um die Entlassung eines Ministers bitten?

Auf den ersten Blick befremdlich ist, dass der:die Bundeskanzler:in den Bundespräsidenten um die Entlassung von Minister:innen bitten darf. Sind die Minister:innen nicht politisch so bedeutend und gibt es dem:der Bundeskanzler:in nicht erstaunlich viel Macht, wenn er:sie auch um die Entlassung von Minister:innen bitten darf, die der:die Bundespräsident:in grundsätzlich erfüllen muss? Diese Macht ist dem:der Bundeskanzler:in ausdrücklich im Grundgesetz gegeben. So bestimmt Art. 64 Abs. 1 GG, dass die Minister:innen auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten entlassen werden. Der:die Bundeskanzler:in hat dementsprechend die Macht, über das Personal der Regierung zu bestimmen. Allerdings wird diese Macht dadurch begrenzt, dass ein Entlassen von Minister:innen ein politisches Risiko birgt, da es zu einem Auseinanderfallen der Regierung führen kann und so zu einer Abwahl des Bundeskanzlers und der Neuwahl eines anderen, wenn sich entsprechende Mehrheiten im Bundestag finden lassen. Selbst, wenn es nicht zu einer Ab- und Neuwahl im Bundestag kommt, wird das Regieren deutlich schwerer, wenn der:die Bundeskanzler:in keine Mehrheit mehr im Bundestag hinter sich hat.

Deshalb kommt die Entlassung von Minister:innen nur sehr selten vor – die politische Bedeutung eines solchen Vorgehens ist enorm, wie man an der jetzigen Situation gut erkennen kann.

Was ist die Vertrauensfrage?

Die Vertrauensfrage wurde schon oben als mögliches Mittel zur Beendigung einer Regierung angesprochen. Sie ist in Art. 68 GG geregelt. Auf der Grundlage dieser Vorschrift kann der Bundestag vom Bundespräsidenten aufgelöst werden. Dazu muss der:die Bundeskanzler:in den Bundestag nach dem Vertrauen fragen – er:sie muss also fragen, ob noch die Unterstützung einer Mehrheit, also über 50% der Abgeordneten, hinter sich hat.

Bekommt der:die Bundeskanzler:in auf diese Vertrauensfrage keine Mehrheit im Bundestag, ist die Regierung aber nicht beendet; auch der Bundestag ist nicht automatisch aufgelöst. Vielmehr kann sich der:die Bundeskanzler:in dazu entscheiden, mit einer Minderheitsregierung weiter zu regieren. Möchte er:sie dagegen keine Minderheitsregierung führen, kann der:die Bundeskanzler:in dem Bundespräsidenten vorschlagen, den Bundestag aufzulösen. Der:die Bundespräsident:in kann dann die Auflösung vornehmen, er:sie ist dazu aber nicht gezwungen (Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG). Der:die Bundespräsident:in soll nämlich abwägen, wie am sichersten eine stabile Regierung ermöglicht wird. Er:sie könnte die Neuwahl beispielsweise ablehnen, wenn er:sie glauben würde, dass der Bundestag nach einer Wahl derart zersplittert wäre, dass keine Regierung nach einer Wahl zustande käme. In der Praxis ist das jedoch bisher nicht vorgekommen – ohnehin ist die angekündigte Vertrauensfrage erst die sechste in der Geschichte Deutschlands.

Der/die Bundeskanzler:in kann dem Bundespräsidenten aber auch zuvorkommen und von seinem Amt zurücktreten, was zu einer neuen Bundeskanzlerwahl im Bundestag und so mittelbar zu einer neuen Regierung führen würde (vgl. Art. 69 Abs. 2 S. Alt. 2 GG).

Warum wird nicht sofort gewählt?

Die Frage lässt sich schnell beantworten. Noch gibt es sowohl einen gewählten Bundestag als auch eine Regierung. Es ist noch keiner der Fälle eingetreten, durch den die Regierung beendet wird. Das wird aller Voraussicht nach jedoch geschehen, sollte Olaf Scholz bei seiner Vertrauensfrage nicht die Mehrheit erhalten und der Bundespräsident seinem Vorschlag zur Auflösung des Bundestages folgen. Dann müsste neu gewählt werden. Wird der Bundestag aufgelöst, muss nach Art. 39 Abs. 1 S. 4 GG innerhalb von 60 Tagen nach der Auflösung neu gewählt werden. Entsprechend wird es eine Neuwahl erst nach einer Auflösung des aktuellen Bundestages geben.

Alle Fragen geklärt?

Hoffentlich hat dieser kurze Beitrag ein bisschen Licht auf die rechtlichen Hintergründe der aktuellen politischen Situation geworfen und so das Verständnis für grundgesetzliche Regelungen zur Regierung geschärft.


[1] In diesem Fall muss der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder eine:n neue:n Bundeskanzler:in wählen.