Demokratische Alternativen zum deutschen Wahlsystem

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Anmerkung zum Interview Partner: Philip Berger promoviert derzeit an der Universität Münster zum Thema Grundgesetz und aleatorische Demokratie. Er ist außerdem wissenschaftlicher Mitarbeiter einer Kanzlei in Düsseldorf und engagiert sich ehrenamtlich bei GermanZero.

Mattis: Lieber Philip, zunächst vielen Dank, dass du dir die Zeit nimmst, um uns einen vielleicht kritischen Blick auf Wahlen zu vermitteln. Bevor wir uns der Frage widmen, welche demokratischen Alternativen zum Wählen denkbar sind, ist es glaube ich wichtig, über Demokratie zu sprechen. Was genau verstehst du denn unter Demokratie?

Philip: Das ist eine vielschichtige Frage. Der Begriff Demokratie hat ideengeschichtlich viele Facetten.

Nach einer strengen juristischen Definition könnte man sagen, dass Demokratie ein Ordnungsprinzip für staatliche Herrschaft ist. Das ist letztendlich eine komplizierte Umschreibung dafür, dass wir einen Prozess entworfen haben, indem wir aussuchen, wer verbindliche Regeln für alle bestimmen darf. Für Deutschland heißt das konkret, wir wählen unser Parlament für vier Jahre und in dieser Zeit dürfen die gewählten Parlamentsmitglieder Gesetze erlassen.

Umgangssprachlich würde ich den Begriff aber weiter verstehen, so dass er viele Teile unserer freien Gesellschaft umfasst. So verstanden gehört zur Demokratie  die Freiheit und Gleichheit aller Bürger, aber beispielsweise auch ein funktionsfähiger Rechts- und Sozialstaat, der sich um seine Bürger kümmert.

Mattis: Lass uns trotzdem kurz bei dem formalen Begriff bleiben. Du hast zum Thema Ordnung die Begriffe „Wahlen“ und „Parlament“ angesprochen. Deutschland ist eine sog. parlamentarische Demokratie. Was bedeutet das?

Philip: Wie der Name es eigentlich schon verrät, wählt man in einer parlamentarischen Demokratie das Parlament, das dann alle wichtigen Entscheidungen treffen darf. Das ist in Deutschland im Wesentlichen der Bundestag. Dieser wird deswegen auch die Herzkammer der Demokratie genannt. Sachentscheidungen werden erst im Bundestag getroffen. In einer parlamentarischen Demokratie, wie wir sie in Deutschland haben, wählen wir also direkt die Abgeordneten und bestimmen dadurch nur indirekt über konkrete Themen.

Mattis: Du beschäftigst dich nun mit Alternativen zum demokratischen Parlamentarismus. Was hat dich dazu bewogen, zu diesem Thema zu forschen? Siehst du Probleme mit der Art und Weise wie wir wählen?

Philip: Probleme bei unseren Wahlen selbst beobachte ich nicht. Die Wahlen in Deutschland funktionieren im Großen und Ganzen gut und erfüllen ihren vorgesehenen Zweck. Insbesondere erleben wir keinen nennenswerten Wahlbetrug und man sollte positiv hervorheben, dass in Deutschland Geld eine viel geringere Rolle bei Wahlen spielt, als z.B. in Amerika.

Nichtsdestotrotz gibt es Menschen, die mit unserem System unzufrieden sind und einige Erklärungsansätze setzen an dem Prinzip der Wahlen an. Die Unzufriedenheit stammt danach nicht aus einer schlechten Umsetzung von Wahlen in Deutschland, sondern aus strukturellen Problem, die automatisch auftreten, wenn wir ein Parlament wählen.

Ein erstes strukturelles Problem liegt darin, dass bei Parlamentswahlen bestimmte Gruppen von Menschen bessere Chancen haben, gewählt zu werden, als andere. Es hat also faktisch nicht jeder in der Gesellschaft die gleiche Chance, ins Parlament einzuziehen. Das sieht man ziemlich eindeutig im Bundestag. Hier sitzen beispielsweise weniger Menschen mit Migrationshintergrund als ohne, mehr Männer als Frauen und mehr Juristen als andere Berufsgruppen. Unser Parlament spiegelt also unsere Gesellschaft in diesen Parametern nicht wider. Das kann zur Folge haben, dass sich bestimmte Bevölkerungsgruppen nicht vertreten fühlen.

Ein zweites strukturelles Problem liegt in den Legislaturperioden. Abgeordnete im Bundestag sollen Regeln für uns alle machen. Dabei müssen sie auch Entscheidungen treffen, die nicht immer alle gut finden. Das gilt ganz besonders für Regeln, die zu sofort spürbaren Nachteilen oder Einschränkungen führen und deren mögliche Vorteile erst in weiter Zukunft eintreten würden. Die Abgeordneten wollen aber nach vier Jahren wieder von uns gewählt werden. Ihre Chancen auf eine Wiederwahl sinken natürlich, wenn sie Regeln beschließen, die wir erstmal blöd finden. Das gilt sogar dann, wenn sie langfristig vielleicht gut für uns wären. Deswegen haben Abgeordnete häufig kein Interesse daran, solche Regeln zu beschließen. Ich glaube, dass wir deswegen z.B. beim Thema Umweltpolitik kaum überzeugende, langfristige Lösungen finden, sondern viel reaktionäre Politik gemacht wird.

Mattis: Ok du hast mich überzeugt. Wir brauchen eine Alternative zu unseren Wahlen!

Philip: Soweit würde ich nicht gehen. Wie gesagt, im Großen und Ganzen funktionieren unsere Wahlen sehr gut. Aber mit Blick auf die oben angesprochenen Probleme glaube ich, dass es sich lohnt, über Ergänzungen zu unserem parlamentarischen System nachzudenken.  

Mattis: An was für Ergänzungen denkst du dabei?

Philip: Im Wesentlichen denke ich über zwei Ergänzungen nach. Zum einen über Formen von direkter Demokratie und zum anderen über zufallsbasierte Beteiligungskonzepte. Zum letzteren Thema forsche ich derzeit.

Mattis: Lass uns gerne über beide Ergänzungen sprechen. Was genau meinst du mit direkter Demokratie? Wählen wir aktuell nicht auch direkt unser Parlament?

Philip: Nach einem strengen wörtlichen Verständnis hast du sogar recht. Direkte Demokratie heißt erstmal nur, dass das Volk selbst entscheidet. Insofern sind die Parlamentswahlen eine Form der direkten Demokratie.  

Was man umgangssprachlich unter direkter Demokratie versteht meint aber nicht die direkte Wahl von Volksvertretern, sondern die direkte Entscheidung über ein bestimmtes Thema oder eine bestimme Sachfrage. Also wir entscheiden in einer Abstimmung konkret, ob wir Gesetz A oder B haben möchten oder eben nicht. Die Zwischenebene des Parlaments schaltet man durch so einen Prozess dann in Bezug auf die konkrete Frage aus.

Mattis: Ist Deutschland eine direkte Demokratie, wie du sie eben umgangssprachlich beschrieben hast?

Philip: Nein. Deutschland ist keine direkte Demokratie. Einschränkend möchte ich sagen, dass es eine echte direkte Demokratie auch nicht gibt. Es braucht immer Leute, die die Entscheidungsprozesse vorbereiten und die Tagespolitik übernehmen. Niemand will ernsthaft über jedes Gesetz abstimmen müssen. Dann würde man zu nichts mehr kommen.

Was aber denkbar wäre, ist für bestimmte, besonders wichtige Themen Volksabstimmungen abzuhalten. Das ist in Deutschland zumindest im Grundgesetz nicht vorgesehen. In den einzelnen Landesverfassungen sieht das allerdings anders aus.

Mattis: In meinem Bundesland darf ich also direkt über Sachthemen abstimmen, aber in der Bundesrepublik geht das nicht? Was gilt denn nun? Die Landesverfassung oder das Grundgesetz? 

Philip: Beides. Grundsätzlich gilt sowohl das Grundgesetz als auch die Verfassungen der einzelnen Bundesländer. Die Einzelheiten können sehr kompliziert und juristisch werden. Im Grundsatz kann man sich merken, dass der Bund Gesetze für bestimmte Themen erlassen darf und die Länder für andere Themen zuständig sind. Das nennt man Kompetenz. Länder sind, wie man derzeit mitbekommt, z.B. für Schulen, die Polizei und in Teilen für den Infektionsschutz zuständig.

Wenn das Land ein Gesetz erlassen darf, kann es das – wie üblich – durch die Landesparlamente machen. Es könnte aber auch das Volk in Volksabstimmungen direkt selbst entscheiden lassen. Wenn jedoch der Bund zuständig ist, geht das nicht, weil unser Grundgesetz eine solche Möglichkeit – bis auf ganz wenige und letztlich irrelevante Ausnahmen – nicht vorsieht.

Mattis: Könnte man unser Grundgesetz ändern, um mehr direkte Demokratie zu ermöglichen, wenn das gewollt wäre.

Philip: Ja. Grundsätzlich kann unser Grundgesetz geändert werden. Dafür bedarf es einer 2/3 Mehrheit im Bundestag und im Bundesrat. Das Grundgesetz beinhaltet darüber hinaus aber noch die sog. Ewigkeitsgarantie. Die verbietet es dem Gesetzgeber, bestimmte Regeln in unserer Verfassung zu verändern. Das betrifft zum einen die Menschenwürde in Art. 1 GG und die – Achtung sehr juristisch – sog. Staatsfundamentalgrundsätze. Dazu gehören beispielsweise die Demokratie, der Rechtsstaat und der Sozialstaat. Die Ewigkeitsgarantie steht aber nach meinem Verständnis einer Grundgesetzänderung für mehr direkte Demokratie nicht im Wege.

Mattis: Vielleicht so viel zum Thema der direkten Demokratie. Du hattest noch eine zweite Ergänzungsmöglichkeit zu unseren parlamentarischen Wahlen erwähnt. Die sog. „zufallsbasierten Beteiligungskonzepte“. Was versteckt sich hinter diesem sperrigen Begriff?

Philip: Der Begriff ist wirklich sperrig, aber die Idee ist eigentlich ziemlich einfach. Anstelle von Wahlen könnten wir Gremien oder Parlamente auch durch ein Losverfahren besetzen. Man zieht also komplett zufällig einzelne Menschen aus dem Volk, die dann die Gesetze bestimmen sollen. Charmant an dieser Methode ist natürlich, dass wir die eingangs beschriebenen Probleme lösen könnten. Zum einen wäre unser Parlament statistisch gesehen repräsentativer für unsere Gesellschaft, es würden also alle gesellschaftlichen Gruppen gerechter vertreten, da das Zufallsprinzip niemanden begünstigt. Zum anderen könnten langfristig sinnvollere Entscheidungen getroffen werden, weil niemand wiedergewählt werden kann und deswegen kein so starker Anreiz besteht, möglichst populäre Entscheidungen zu treffen. Außerdem ist der Vorteil gegenüber Volksabstimmungen, dass sich alle Beteiligten vor der Entscheidung intensiv mit den Fragen auseinandersetzen.

Mattis: Wie kann es denn demokratisch sein, wenn wir auswürfeln, wer in unserem Parlament sitzt? Ich dachte Demokratie ist, wenn man wählt!

Philip: Dieses Verständnis hat sich in den letzten paar hundert Jahren so eingeschlichen. Inzwischen wird Demokratie mit Wählen gleich gesetzt. Das sah früher aber anders aus. Im alten Athen – der Wiege der Demokratie, wenn man so will – wurden z.B. die meisten öffentlichen Ämter ausgelost. Dadurch konnte man sicher gehen, dass alle repräsentiert wurden und niemand allein die Macht an sich reißen konnte. Für uns würde das evtl. bedeuten, dass mehr Menschen mit Migrationshintergrund, mehr Frauen und verschiedene Berufsgruppen ins Parlament kommen würden.

Man könnte deswegen argumentieren, dass man dem demokratischen Ideal der Volksherrschaft durch Losen sogar näher kommt, als durch Wahlen. Wobei es natürlich stimmt, dass Losverfahren verhindern würden, dass das Volk konkret bestimmen kann, wer im Parlament sitzt. Es müsste akzeptiert werden, dass alles passieren kann.

Mattis: Also meinst du, wir sollten anstelle von Wahlen alle vier Jahre eine große Volksziehung abhalten und die Menschen, die gezogen werden, kommen dann ins Parlament?

Philip: Nein. So einen drastischen Schritt würde ich nicht befürworten. Deswegen habe ich oben auch nur von Ergänzungen und nicht von Alternativen gesprochen. Die spannende Frage ist für mich eher, ob gezielt eingesetzte Losverfahren manche Nachteile von unseren Wahlen etwas ausgleichen könnten.

Mattis: Hast du konkrete Vorschläge zur Ergänzung im Kopf?

Philip: Ich finde ein gutes Beispiel konnte man vor ein paar Jahren in Irland beobachten. Dort wurde ein Rat mit 66 ausgelosten Personen und 33 Parlamentariern besetzt. Um auf 100 zu kommen, wurde noch ein Vorsitzender bestimmt. Dieser Rat hat dann über Verfassungsänderungen diskutiert und Vorschläge unterbreitet. Das Schöne an diesem Projekt war, dass die Fragen, über die diskutiert wurde, vor allem moralische Fragen oder Gewissensentscheidungen waren. Die Mitglieder brauchten also keine juristische Expertise, sondern mussten entscheiden, ob sie etwas richtig oder falsch finden.

Die ausgearbeiteten Vorschläge wurden im Anschluss im Wege eines Referendums – also einer Art Volksabstimmung – mit überraschend großen Mehrheiten angenommen. Daraus kann man ableiten, dass sich das Volk von dem Rat gut repräsentiert gefühlt hat und jeder mit dem verhandelten Kompromiss leben kann. So etwas könnte ich mir grundsätzlich auch für Deutschland vorstellen.

Wie du siehst, ist das ein Vorschlag, der Wahlen als solche nicht komplett in Frage stellt. Aber solche Beteiligungsformen könnten Wahlen ergänzen, um z.B. die oben beschriebenen Probleme mit Parlamentswahlen reduzieren.

Mattis: Was sagt denn das Grundgesetz zum Thema Losverfahren?

Philip: Das Grundgesetz schweigt zum Thema Losverfahren. Ähnlich wie direkte Demokratie sind Losverfahren auf Bundesebene jedenfalls nicht vorgesehen. Übrigens auch nicht in den Landesverfassungen.

Mattis: Das heißt auch für Losverfahren müssten wird unsere Verfassung ändern? 

Philip: Das müssten wir auf jeden Fall. Aber ob wir es überhaupt dürften, ist eine sehr spannende Frage und wenn ich sie dir abschließend beantworten kann, dann habe ich meine Dissertation fertig geschrieben. Bis jetzt kann ich nur sagen, dass es sehr auf das konkrete Modell ankommt. Denn anders als bei Formen von direkter Demokratie, könnten manche Einsatzmöglichkeiten von Losverfahren gegen die oben genannte Ewigkeitsgarantie verstoßen. Der Gesetzgeber dürfte sie nicht in die Verfassung schreiben, ob wir wollen oder nicht.

Ganz konkret liegt das an Art. 20 II GG. In dem heißt es:

Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“

Es kommt also für die Beantwortung der Frage, welche Losverfahren erlaubt sind, ganz entscheidend darauf an, wie man Art. 20 II GG versteht. Er bildet also eine zwingende rechtliche Grenze für mögliche Konzepte.

Mattis: Also könnten wir nicht einfach unsere Parlamentswahlen durch eine Parlamentslotterie ersetzen, weil das Volk seinen Willen dann nicht mehr in Wahlen und Abstimmungen ausdrücken kann?

Philip: Ja, ich bin der Meinung, dass man Art. 20 II GG wohl so verstehen muss. Aber bei Modellen wie dem Irischen oder anderen weniger extremen Möglichkeiten, gibt es gute Gründe, die für eine Verfassungsmäßigkeit sprechen könnten.

Mattis: Philip, vielen Dank für das Gespräch. Mir hat es viel Spaß gemacht und ich konnte vieles lernen. Das ganze GGV Team wünscht dir natürlich noch viel Erfolg bei deiner weiteren Promotion.

Philip: Vielen Dank, dass ihr ein Interview mit mir gemacht habt. Über die Anfrage habe ich mich sehr gefreut. Ich hoffe, ich konnte möglichst viel verständlich erklären. Das macht man als Jurist leider eher selten. Ich finde es super, wenn Menschen ein Interesse an unserem Staat zeigen und in der Öffentlichkeit oder privat darüber diskutieren. Dazu gehören auch Dinge, wie Demokratie, Wahlen oder eben Ergänzungen dazu. Je mehr wir darüber sprechen, wie wir unsere Demokratie besser machen können, desto länger bleibt sie uns erhalten.