In unserer Reihe zur Europawahl haben wir erklärt, welche Institutionen eigentlich eine Rolle in der Europäischen Union spielen, wie das Europäische Parlament gewählt wird und was es mit dem Spitzenkandidatensystem auf sich hat. Nachdem wir uns mit diesen spannenden Themen beschäftigt haben, setzt sich dieser Text mit etwas Grundsätzlicherem auseinander. Denn immer häufiger machen Menschen gegen die Europäische Union als solche Stimmung und wollen zurück zu einem „Europa der Vaterländer“.1 Dabei wird auch die langjährige Kritik aufgegriffen, die Europäische Union sei „undemokratisch“ und „technokratisch“. Diesen Vorwürfen soll hier begegnet werden, um zu erklären, weshalb es so wichtig ist, sich an der europäischen Demokratie durch die Europawahl zu beteiligen.
Was ist eine „Technokratie“?
Herrschaft der Sachverständigen und Technokraten. In der Regel negative, gelegentlich neutrale Beschreibung einer Regierung, die ihre Entscheidungen (ausschließlich) an wissenschaftlich-technischen Argumenten und Sachzwängen orientiert und die politisch-demokratische Willensbildung außer Acht lässt.2
Was ist eine „Demokratie“?
Demokratie ist eine Form der Regierung, bei der die Macht vom Volk ausgeht. In einer Demokratie haben die Bürger:innen das Recht, ihre Meinungen und Wünsche auszudrücken und in der Regel durch Wahlen ihre Vertreter:innen zu bestimmen. Diese treffen Entscheidungen im Namen des ganzen Volkes.3
Was spricht für die Europäische Union?
Die Europäische Union ist in erster Linie ein Friedensprojekt. Über Jahrhunderte hinweg wurden auf dem Gebiet der heutigen Europäischen Union bewaffnete Konflikte ausgetragen. Mal waren es kleinere Scharmützel und mal waren es riesige, weltumspannende Kriege. Nach den Schrecken des zweiten Weltkriegs war klar, dass so etwas nie wieder geschehen darf. Die Europäische Union (früher noch Europäische Gemeinschaft) war ein Baustein für ein friedliches Europa. Sie setzte auf wirtschaftliche Vernetzung und geteilten Wohlstand. Wer mehr zur Geschichte der EU lesen möchte, kann das hier4 und hier5 tun. Gerade jetzt, wo wieder Krieg auf europäischem Boden geführt wird, darf die friedenssichernde Funktion der Europäischen Union nicht vergessen werden und ist wichtiger denn je.
Darüber hinaus profitieren wir alltäglich von der Europäischen Union. Jeder Urlaub wird leichter, weil wir ohne Reisepass und Grenzkontrolle in unsere Nachbarländer fahren können. In der Schule, der Ausbildung oder im Studium wird man finanziell im Austauschprogramm „Erasmus“ und „Erasmus+“ unterstützt. Durch ein Zollverbot in der gesamten EU werden unsere Produkte im Supermarkt günstiger und gerade Deutschland als Exportnation kann viele Produkte günstig in europäische Mitgliedsstaaten verkaufen. Das schafft hier Arbeitsplätze und damit Wohlstand. Unterm Strich ginge es uns wirtschaftlich und kulturell schlechter, wenn wir nicht Teil der Europäischen Union wären.
Ist die Europäische Union demokratisch?
Ja, die Europäische Union ist eine demokratische Institution. Sie gründet sich gem. Artikel 2 Satz 1 EUV (ganz vereinfacht gesagt das Grundgesetz der Europäischen Union) auf dem Wert der Demokratie. Ihre Arbeitsweise beruht auf der repräsentativen Demokratie, gem. Artikel 10 Absatz 1 EUV.
Die demokratische Legitimation der Europäischen Union stützt sich im Wesentlichen auf zwei Säulen. Zum einen werden die Unionsbürger:innen im Europäischen Parlament unmittelbar vertreten. Zum anderen werden die Mitgliedsstaaten mittelbar im Europäischen Rat vertreten. Hier sind die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten vertreten, die wiederum in demokratischer Weise gegenüber ihren nationalen Parlamenten und ihren Bürger:innen Rechenschaft ablegen müssen. Was genau das Europäische Parlament und der Europäische Rat machen, haben wir in unserem ersten Blogbeitrag zu den Europawahlen erklärt. Wichtig für uns ist hier nur, dass sie wesentlich für den Gesetzgebungsprozess sind.
Darf man die Europäische Union auch kritisch sehen?
Unbedingt! In erster Linie kann man der Europäischen Union ein hohes Maß an Komplexität vorwerfen. Der Gesetzgebungs- und Entscheidungsfindungsprozess ist langwierig, kompliziert und für Einzelne nicht immer transparent und nachvollziehbar. Auch ist sicher richtig, dass viele Entscheidungen in Brüssel das Ergebnis von politischen Kompromissen sind, bei denen am Ende nicht immer klar ist, welche Interessen sich durchgesetzt haben.
Auch im Tagesgeschäft gelingt es der Europäischen Union oft nicht, die Probleme der Mitgliedstaaten zu lösen. Ein medial sehr präsentes Beispiel ist die Verteilung von schutzsuchenden Asylbewerber:innen. Vereinfacht gesagt halten sich viele Mitgliedsstaaten nicht an die vereinbarten (Verteilungs-)Regeln und der Europäischen Union fehlt die politische und rechtliche Durchsetzungskraft, um die Einhaltung zu gewährleisten. Hier könnt Ihr mehr zum aktuellen Stand und Reformplänen lesen.6 Unabhängig von der persönlichen Meinung zu diesem Thema, würden europäische Lösungsansätze die Situation sicher deutlich entschärfen, auch wenn sie natürlich kein Allheilmittel sind.
Ein anderes Beispiel ist der Korruptionsskandal des Europäischen Parlaments um die Ex-Vizepräsidentin Eva Kaili. Einige Parlamentarier:innen haben Geld angenommen, um ihren Einfluss für Drittstaaten einzusetzen. Wer mehr dazu erfahren möchte, kann hier nachlesen.7
Trotz dieser berechtigten Kritik ist es aber falsch, die Europäische Union als undemokratisch zu bezeichnen oder sie gar als unwichtig zu betrachten. Ein gewisses Maß an Komplexität wird bei einem Konstrukt von 27 Staaten auch immer dazu gehören, wie wir im Fazit zum Spitzenkandidatenmodell festgestellt haben.
Soll ich trotzdem wählen gehen? Und warum?
Ja! Trotz aller Kritik ist die Europäische Union eine Erfolgsgeschichte. Sie garantiert Frieden, Sicherheit und Wohlstand, zumindest innerhalb ihrer Grenzen.
Durch Eure Stimme könnt Ihr nicht nur entscheiden, welche Parteien in den kommenden fünf Jahren die Gesetzgebung mitbestimmen. Ihr könnt außerdem ein Zeichen für die Europäische Union setzen und den destruktiven Kräften innerhalb der Union eine klare Absage erteilen. Deswegen solltet ihr unbedingt wählen gehen und auch eure Freunde und Freundinnen und Familien zur Wahl motivieren. Denn nicht wählen zu gehen steigert das Risiko extremistischer Einflüsse: Wenn nur bestimmte Gruppen oder Ideologien wählen gehen, besteht das Risiko, dass extremistische Ansichten überproportionalen Einfluss gewinnen. Eine breite Beteiligung der gesamten Bevölkerung trägt dazu bei, politische Extreme zu vermeiden und bekräftigt EU-Werte wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte.
- https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/das-europalexikon/176853/europa-der-vaterlaender/; kritisch: https://www.deutschlandfunkkultur.de/europa-der-vaterlaender-100.html ↩︎
- https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/politiklexikon/18329/technokratie/ ↩︎
- https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/politiklexikon/17321/demokratie/ ↩︎
- https://european-union.europa.eu/principles-countries-history/history-eu/1945-59_de ↩︎
- https://www.europaimunterricht.de/geschichte-der-eu ↩︎
- https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/522800/reform-des-gemeinsamen-europaeischen-asylsystems/#node-content-title-3 ↩︎
- https://www.deutschlandfunk.de/korruption-ermittlungen-eu-parlament-bruessel-vizepraesidentin-eva-kaili-100.html ↩︎